Covid-19

Es gibt viel aufzuarbeiten

 

Mein vierjähriger Enkel liebt das Versteckspiel auf eine besondere Art. Er sucht mich gerne mit großer Lust, wenn ich das vorher von ihm bezeichnete Versteck eingenommen habe. Dann spielt er Suchen, obwohl er schon längst weiß, wo er mich findet. Er baut sich seine eigene Wirklichkeit.

Derzeit finden wir Mitbürger, die sich ebenfalls ihre eigene Wirklichkeit bauen, indem sie genaue Antworten auf das haben, was wir derzeit bewältigen. Sie sind überzeugt, genau zu wissen, was hinter der Krise steckt und verhalten sich entsprechend.

Tastende Lösungen entlang großer Einschränkungen

Zu diesen Verschwörungsgläubigen gehören wir nicht in der Diakonie. Wir haben uns der Situation gestellt und – ohne große Vorbereitung – auf die Herausforderungen reagiert, tastend nach Lösungen gesucht. Dabei ging viel mehr gut, als zu befürchten war.

Wir entschieden uns für große Einschränkungen - und hatten anschließend die Folgen zu tragen: der Schutz der Klienten und der Mitarbeitenden stand im Vordergrund.  Überall wurden Corona-Krisenstäbe eingerichtet, die häufig mehrmals täglich in Videokonferenzen tagten.

Soziale Dienste ungewohnt unter Quarantäne

Menschen mit Behinderungen hatten es schwer mit dem Gedanken,  weder die Werkstätten besuchen, noch ihre Angehörigen empfangen zu können. Ganze Abteilungen mussten zeitweise unter Quarantäne gestellt werden, weil eine Erkrankung auftrat. In einigen Einrichtungen gab es mehrere an dem Virus verstorbene Menschen. Ganze Bereiche wurden geschlossen,  wie z.B. das Angebot der Bahnhofsmissionen „kids on tour“.

Ältere oder gefährdete ehrenamtliche Mitarbeitende wurden nach Hause geschickt und deshalb ganze Bereiche, die von Ehrenamtlichen gestaltet werden, zugemacht, etwa Dienste der „Grünen Damen und Herren“ oder Bahnhofsmissionen an kleinen Stationen.  

Ansteckendes Engagement von Mitarbeitenden, Bürgern und Behörden

Arbeitsrechtlich war es problematisch, Personal, das durch betriebliche Schließungen frei wurde, an anderer Stelle einzusetzen. Gleichwohl gab es Freiwillige, die von sich aus den Einsatzort wechselten.

Wir erlebten eine beispiellose Hilfsbereitschaft. Wohnsitzlose Menschen sind mehr ins Bewusstsein geraten. Die Hilfe sowohl aus der Bevölkerung als auch von den Kommunen überschritt das übliche Maß.

Viele Bahnhofsmissionen waren dabei besonders engagiert, obwohl sie das schon immer sind. Kleiderspenden, Essensausgaben, auch unterstützt durch die Deutsche Bahnstiftung, wurden verstärkt. Die angestellten Mitarbeitenden konnten sich vor allem auf engagierte junge Menschen im sozialen Jahr oder im Freiwilligendienst verlassen.

Betreutes Wohnen ohne Schutzschirm

Die Bundesregierung hat einen Schutzschirm für soziale Einrichtungen mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG)  geschaffen. Dennoch ist bisher die  Behindertenhilfe benachteiligt.

In den Wohneinrichtungen wurden mehr Personalstunden gebraucht, denn die Menschen mit Behinderungen durften nicht zur Werkstatt gehen. Weil das Gesetz jedoch diese Häuser nicht in vollem Umfang refinanziert, sind an dieser Stelle Finanzierungslücken entstanden.

Anders geht es den Pflegeeinrichtungen. Dennoch wurde auch hier erhöhter Personaleinsatz durch gesundheitsbedingte Ausfälle nötig, der zu Finanzierungslücken führte. Einige Sozialunternehmen haben schon vorsorglich einen größeren Überziehungskredit mit den Banken verhandelt, um liquide bleiben zu können.

Anhaltender Mangel an Ausrüstung

Ein weiteres großes Problem stellt bis heute die Ausstattung mit Schutzausrüstung dar. Sie  ist nicht ausreichend vorhanden und nur mit erheblichem finanziellem Mehraufwand zu erhalten. In der Öffentlichkeit wurde dies hinreichend diskutiert, in den Einrichtungen war dieser Mangel spürbar.

Erfreulich ist die übergroße Solidarität, die sowohl innerhalb der Diakonie als auch aus der Bevölkerung zu verzeichnen ist. Endlich haben die pflegerischen und sozialen Berufe die Anerkennung, die ihnen gebührt.

Eine einmalige Prämie, um deren Finanzierung lange gestritten wird, reicht als Anerkennung nicht aus, sondern nur eine adäquate Bezahlung dieser Leistungen.

Wiederholte Forderung nach besserer Bezahlung

Wir haben dies  als Diakonie schon 2008 mit öffentlichen Aktionen in Berlin unter dem Motto „Wir sind es wert“ gefordert. Zu wenig ist bisher passiert.

Das gesteigerte Bewusstsein in der Bevölkerung für die Qualität der sozialen Arbeit muss sich jetzt auch in der Vergütung des Personals wiederspiegeln.  Alle entsprechenden Gremien sind aufgefordert, schnell an die Umsetzung zu gehen. Diakonie und Gewerkschaften könnten hier eine Phalanx bilden.

Mehr Sensibilität für Altersdiskriminierung

Alte Menschen sind in der Pandemie ebenfalls häufig in den Blick geraten: als besonders schutzwürdig. Das hat zuweilen zu Abwehrmechanismen geführt, weil das  Verschwörungsmärchen verbreitet wurde, dass nur um dieser Menschen willen der gesamte Lockdown veranstaltet worden sei.

Manches, was gesagt und getan wurde, könnte als Altersdiskriminierung bezeichnet werden. So wurden häufig Ehrenamtliche über 60 vor allen anderen Mitarbeitenden nicht mehr zur Arbeit zugelassen. Ältere haben deshalb viel Phantasie darauf verwendet, wie sie dennoch nützlich werden könnten.

„Würde man allein aus der Gruppe der älteren Menschen Freiheitsbeschränkungen ableiten, dann wäre dies nichts anderes als ein Altersstereotyp, verbunden mit der Tendenz zur Diskriminierung.“ (Professor Andreas Kruse, FAZ 11.04.2020)

Körperlicher Distanz verbunden mit sozialer Nähe

Wir haben am Ende dieser Pandemie einiges aufzuarbeiten. Denn wir müssen uns darauf vorbereiten, dass Gesundheitsrisiken, die uns zuvor nicht bekannt waren, immer wieder zu unserem Erfahrungsfeld gehören werden.

Wir haben viel organisiert, um körperliche Distanz herzustellen. Ebenso viel müssen wir künftig in soziale Nähe investieren. Infektionsschutz darf nicht diskriminieren und nicht emotional isolieren.

Dennoch bleibt die Dankbarkeit, dass wir bisher so gut bewahrt worden sind und dass ein Zusammenhalt spürbar war wie lange nicht. Auch wenn das an den Rändern schon wieder zerfleddert.

Zusammenhalt und Gemeinschaft um der Menschen und der Sache willen sind Kennzeichen der Diakonie.

 

 


Berlin im Juni 2020

Klaus-Dieter Kottnik
Pfarrer, Mediator, SCSD-Mitglied
Vorstand Evangelische Bahnhofsmissionen
Vorsitz Kuratorium Stephanus Stiftung
Präsident der Diakonie Deutschland (2006-2010)